„Mir fehlt die volle Kraft“

Jovana Miloradovic, 28, Jurastudentin aus Hamburg

„Vor einem Jahr hatte ich COVID-19, noch immer fühle ich mich angeschlagen. Wie eine Welle schwappt manchmal eine Müdigkeit über mich, für die es keinen Grund gibt. Dann muss ich mich hinlegen, weil ich sonst umfalle, so fühlt es sich jedenfalls an. Wenn ich die Treppe zum U-Bahnsteig steige, bekomme ich Atemnot. Mir fehlt die volle Kraft, und mich erschreckt, dass die Nachwirkungen schon so lange anhalten.

Ich studiere Jura, zurzeit bereite ich mich auf das erste Staatsexamen vor. Eigentlich ist die Corona-Zeit für eine Prüfungsvorbereitung nicht schlecht. Du gehst sowieso nicht raus, triffst keine Freunde, hast kaum Ablenkung. Aber ich sehne mich danach, mal wieder ein Wochenende mit meinem Freund bei seinem Großvater an der Ostsee zu verbringen, am Strand zu schlendern, die Ruhe zu genießen.

Die Examensklausur steht im Herbst an. Eigentlich wollte ich sie ein Jahr früher schreiben, doch Corona hat meine Pläne über den Haufen geworfen: Im März wurde ich krank: Husten, Druck auf der Brust, Brennen in der Lunge, Magenschmerzen, Atemprobleme. Einmal wollte ich eine Kiste anheben und schaffte es kaum. Ich fühlte mich wie eine uralte Frau. Und als ich mich im Spiegel mit bläulich verfärbten Lippen sah, war ich erschrocken. Da hatte ich richtig Angst um mich.

Die Hausärztin vermutete eine Magenschleimhautentzündung, die Röntgenuntersuchung im Krankenhaus ergab keine Auffälligkeiten. Ein Corona-Test wurde nie gemacht, da mir das Leitsymptom fehlte: Fieber. Also bin ich weiter mit der Bahn zur Uni gefahren, einkaufen gegangen. Masken waren noch nicht an der Tagesordnung. Da es mir nicht gut ging, haben wir auch nicht viel unternommen – zum Glück. Denn später erfuhren mein Freund und ich nach einem Antikörper-Test, dass wir beide COVID-19 durchgemacht hatten.

Kaum dass es mir wieder besser ging, erkrankte meine Mutter Srbislava Bunge – von jetzt auf gleich. Im Jahr zuvor war ich genauso wenig vorbereitet gewesen, als bei ihr eine schwere Krebserkrankung festgestellt wurde. Damals war ihr Leben nicht unmittelbar in Gefahr. Corona kam dagegen wie ein Unfall: Plötzlich entwickelte meine Mutter hohes Fieber, und kurze Zeit später lag sie schon im künstlichen Koma auf der Intensivstation. Ihre Überlebenschancen waren nicht gut.

Die Vorstellung, dass meine Mutter stirbt, ohne dass ich sie noch einmal in den Arm nehmen dürfte, war unerträglich. Unsere Familie lebt in Serbien, in Hamburg haben wir nur uns. Ich habe mich um ihre Belange gekümmert, mit den Ärzten oft Rücksprache gehalten, zum Beispiel über den Einsatz eines neuartigen Filters bei der ECMO, habe die Anschluss-Reha auf den Weg gebracht. Erst nach einem Monat durfte ich sie in der Reha-Klinik kurz wiedersehen.

Corona hat mich gelehrt, dankbar zu sein: dass meine Mutter am Leben ist, dass es uns gut geht, dass die Schatten der Krankheit nach und nach schwinden. Auch mein Geschmacks- und Geruchsempfinden, das lange komplett weg war, ist zurückgekehrt. Darüber freue ich mich, auch wenn die Zwiebeln anders schmecken als früher und die Schokolade nicht mehr ganz so süß ist.“


Aufgezeichnet von: Ingrid Kupczik
Foto: Eva Hecht