„Ich habe viel Glück gehabt“
Carsten Mühlenkamp, 55, Unternehmer aus Stade
„Erschöpfung ist noch immer ein Thema für mich, auch die Konzentrationsfähigkeit. Ich weiß, dass ich Geduld haben muss. Keine leichte Übung. Vor COVID-19 war ich erschöpft, wenn ich zehn Stunden ohne Pause gearbeitet hatte. Seit November arbeite ich wieder, meine Energie reicht mittlerweile für sechs Stunden, mehr ist aber nicht drin. Für alles, was darüber hinausgeht, muss ich tagelang zurückzahlen. Ob ich je wieder meine frühere Leistungsfähigkeit erlange? Es geht voran, aber nur schleichend. Das drückt manchmal auf die Stimmung.
Vor einem Jahr hatte ich mich mit dem Corona-Virus angesteckt, vermutlich beim Chor. Als ich Anfang März hohes Fieber bekam und positiv getestet wurde, haben wir sofort unseren Fachbetrieb für Sanitär, Heizung und Elektro geschlossen und die 26 Beschäftigten nach Hause geschickt. Meine Frau ist ausgebildete Krankenschwester. Als sie mein weißes Gesicht, die blauen Finger sah, und ich alle zwei Sekunden Atem holte, war klar: Sofort in die Klinik. Ich selbst habe mein Sauerstoffdefizit gar nicht wahrgenommen. An den Transport ins Stader Krankenhaus kann ich mich noch erinnern, dann ging die Fahrstuhltür auf, mehr weiß ich nicht. Mein Zustand war wohl sehr kritisch, ich wurde nach kurzer Zeit ins UKE verlegt, dann 17 Tage maschinell beatmet.
Wenn du aus dem künstlichen Koma aufwachst, weißt du nichts, kannst nichts, nicht mal dich selbst im Bett drehen. Was ich im Spiegel sah, hat mich erschüttert: Mit 124 Kilo bei 1,95 Körpergröße war ich in die Klinik gekommen, rausgegangen bin ich mit 92 Kilo. Einmal hatte ich das Bedürfnis, selbständig zur Toilette zu gehen, das ging komplett schief. Ich bin auf die Fliesen geschlagen und wurde erstmal durch den Computertomographen geschoben. Außer einer Platzwunde an der Augenbraue ist mir nichts passiert. Überhaupt habe ich bei meiner COVID-19-Erkrankung viel Glück gehabt und bin mehrfach mit einem blauen Auge davongekommen.
Fünfeinhalb Wochen lag ich im UKE. Als meine Tochter mich abholte, fühlte ich mich noch klöterig, konnte aber selbstständig laufen. Mich hat schockiert, dass viele Patientinnen und Patienten gar nicht mehr auf die Füße kamen. Man sollte mal eine Statistik über alle Fälle führen, die nach COVID-19 dauerhaft auf Pflege angewiesen sind. Beeindruckt hat mich, wie viele Menschen sich auf der Intensivstation um mich gekümmert haben. Ihnen zolle ich höchsten Respekt. Die fünf Wochen Reha in Heiligendamm haben viel gebracht, meine Lunge hat sich gut erholt. Die Bewegungseinschränkung in meiner linken Schulter hat sich durch Krankengymnastik auch schon deutlich verbessert.
Meine Frau war kurz nach mir an COVID-19 erkrankt, hatte hohes Fieber, kam aber schnell wieder auf die Beine und hat noch aus der Quarantäne unseren Betrieb aufrechterhalten. Auch unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben voll mitgezogen. Mein Sohn hat sein Masterstudium in Versorgungstechnik unterbrochen, er hat sich für unseren Familienbetrieb entschieden, den es seit 145 Jahren gibt. Jetzt arbeitet er im Betrieb und macht parallel den Master.
Und ich? Noch im UKE hatte ich mit dem Bootsbauer telefoniert, welche Arbeiten an unserer Yacht, einer Hornet, fällig sind. Im letzten Sommer sind wir dann schon wieder viel die Elbe rauf und runter gesegelt. In diesem Sommer soll es auf die Ostsee gehen, darauf freue ich mich schon. Was mir fehlt? Seit meiner Corona-Erkrankung habe ich nicht einen einzigen normalen Tag erlebt. Wir möchten Freunde einladen, die Familie treffen, mit dem Fahrrad zum Elbanleger fahren und auf dem Ponton eine Tasse Kaffee trinken. Ich wünsche mir das ganz normale Leben zurück!“
Aufgezeichnet von: Ingrid Kupczik
Foto: Ronald Frommann