Verloren in der Virtuellen Welt
Der Drang, am Computer zu spielen, kommt immer nachmittags. Zu Hause, wenn die Langeweile eintritt. Weil die schlechten Noten frustrieren und die Eltern nerven. Die Geschichte eines computersüchtigen Jugendlichen.
Ein trister Novembertag in einem Haus in Norddeutschland. Gebannt sitzt Peer* vor seinem Computer und steuert seinen Avatar zielsicher durch das Krisengebiet. Dass seine Mutter ihn schon mehrfach zum Abendbrot gerufen hat, interessiert den 17-Jährigen nicht. Zu sehr hat ihn das Computerspiel in seinen Bann gezogen. So wie Peer geht es vielen Jugendlichen. In Deutschland sind sechs Prozent der 12- bis 25-Jährigen süchtig nach Computerspielen. Ihre Gedanken kreisen nur noch um das nächste Spiel, und sie reagieren gereizt, wenn ihnen der Zugang zum Internet verwehrt wird. Allein im Deutschen Zentrum für Suchfragen des Kindes- und Jugendalters (DZSKJ) des UKE werden jedes Jahr einige Hundert junge Menschen wegen einer sogenannten Internet Gaming Disorder behandelt. Neun von zehn Patienten sind Jungen.
* Name von der Redaktion geändert
Mit sieben Jahren spielt Peer das erste Mal am Nintendo, mit zehn bekommt er einen eigenen Laptop, mit zwölf entdeckt er Onlinespiele. Games wie diese haben weltweit Millionen Anhänger, ihr Suchtpotenzial ist vergleichbar mit dem von Alkohol oder Drogen. Peer ist fasziniert von den grenzenlosen Möglichkeiten. Das einst geliebte Fußballtraining vernachlässigt er, auch Freunde sieht er kaum noch. Mit 16 beginnt der Junge eine Ausbildung. Von seinem ersten Gehalt kauft er sich einen richtigen Gamer-PC – einen leistungsstarken Rechner, mit dem das Spielen noch mehr Spaß macht. Bis zu zehn Stunden zockt Peer täglich. Doch die Anforderungen in der Ausbildung sind hoch, eigentlich müsste er für die Berufsschule lernen. Die Konsequenzen lassen nicht lange auf sich warten: „Irgendwann hatte ich in der Schule so richtig schön verloren“, sagt Peer. Die Eltern sind besorgt, beschweren sich, weil Peer nicht zu den Mahlzeiten erscheint und seine Freizeit nur noch vorm PC verbringt. „Je schlechter er in der Ausbildung wurde, desto mehr hat er gespielt. Irgendwann hat er sich dann ganz in seine Spielewelt zurückgezogen“, erinnert sich die Mutter.
Das Zentrum im UKE ist oftmals die letzte Rettung
Wann und warum das Spielen zur Sucht wurde, weiß Peer nicht mehr. Waren es die hohen Anforderungen in der Ausbildung? Oder der Ärger mit den Eltern? „Ich habe schon gemerkt, dass ich zu viel zocke. Aber es war mir egal – es hat mich abgelenkt“, sagt er. Doch der Leistungsdruck in der realen Welt wird stärker, der Streit zu Hause immer schlimmer. Die Eltern suchen Hilfe und wenden sich an eine nahegelegene Suchtberatungsstelle. Der Psychologe dort legt der Familie eine Therapie im DZSKJ ans Herz. Das Zentrum wurde 2006 ins Leben gerufen. Für Jugendliche wie Peer, die in eine gefährliche Suchtspirale geraten, ist eine Behandlung im DZSKJ oftmals die letzte Rettung. Gemeinsam mit seiner Mutter geht Peer zu einem Beratungsgespräch in der Ambulanz des DZSKJ.
Die Ärztin ist nett, nimmt ihn und seine Probleme ernst. Der 17-Jährige entschließt sich, eine stationäre Therapie zu machen. Drei Monate verbringt er auf der Suchtstation. Eine intensive Zeit, in der er lernt, seinen Tagesablauf neu zu organisieren und wieder Freude an Freizeitaktivitäten zu finden, die nichts mit PC-Spielen zu tun haben. In Einzel- und Gruppentherapien ist Peer gefordert, Kontakte in der realen Welt zu knüpfen und über Dinge zu sprechen, die ihn belasten. „Am Anfang war das ganz schön ätzend. Ich wusste überhaupt nicht, was ich sagen sollte. Aber irgendwann habe ich mich darauf eingelassen und es wurde besser“, erzählt Peer.
Soziales Miteinander wieder lernen
Mit der Zeit baut er Vertrauen zu seiner Therapeutin und seinem Bezugspfleger auf, findet Spaß an den ergo- und sporttherapeutischen Angeboten und am sozialen Miteinander auf der Station. Gestärkt und mit mehr Selbstvertrauen kehrt er jetzt, am Ende der Therapie, zurück in sein normales Leben: „Durch den Aufenthalt hier habe ich eine andere Sichtweise auf die Dinge bekommen. Ich möchte mich wieder öfter mit Freunden treffen, Fußball spielen und meine Ausbildung beenden.“ Die Umstände sind günstig: Peer hat die Chance, das erste Lehrjahr in seinem Ausbildungsbetrieb zu wiederholen. Mit seinen Eltern hat er eine Art Vertrag geschlossen, in dem sie festgelegt haben, wie der Familienalltag in Zukunft besser gelingen kann. Es geht um Verpflichtungen im Haushalt, gemeinsame Mahlzeiten und Freizeitaktivitäten – und um festgelegte Zeiten am PC. Denn seine Computerspielsucht will der 17-Jährige künftig im Griff haben.
Text: Nadia Weiß
Fotos: Axel Kirchhof