"Mit einem Schlag war alles anders"

Jennifer Haberland ist 29 Jahre alt, als sie im Training für den Ironman einen Schlaganfall erleidet. Sie erobert sich ihr Leben zurück – und zieht Bilanz. Das tat auch Jürgen Krieger (74), den der Schlag im Buchladen traf. Zwei Geschichten über wenige Sekunden, die alles verändern können.

Der letzte Sprint. Geschafft! Jetzt noch den kleinen Berg hoch und dann einen Moment verschnaufen – so dachte Jennifer Haberland, als sie mit letzter Kraft in die Pedalen ihres Rennrads trat. 150 Kilometer wollte sie mit ihrer Trainingsgruppe an diesem Sonntagvormittag im Mai 2014 zurücklegen, um im Sommer bestens vorbereitet beim Ironman, dem anspruchsvollen Dreikampf aus Schwimmen, Radfahren und Laufen, in Frankfurt starten zu können. Ganz plötzlich, auf der Hälfte der Anhöhe, verspürt Haberland einen stechenden Schmerz an der Schläfe, ihr Ohr ist taub. Sie hält an, atmet einmal tief durch und steigt wieder aufs Rad. Für wenige Meter. Dann stürzt sie und kann nicht mehr aufstehen. „Einer meiner ersten Gedanken war: Hoffentlich ist es nichts Schlimmes, sonst kann ich den Ironman vergessen“, erinnert sich die damals 29-Jährige. Dass sie ihre linke Körperhälfte nicht spürt, bemerkt sie zunächst nicht. Wenig später trifft der Rettungshubschrauber ein, Sanitäter drücken ihr eine Narkosemaske aufs Gesicht – dann wird alles schwarz.

Von 100 auf Null

„Als ich auf der Intensivstation des UKE langsam zu Bewusstsein kam, war ich noch recht benommen“, erinnert sich Jennifer Haberland. Was genau nach ihrem Radunfall passierte, realisiert sie erst nach und nach. Dass sie zunächst mit Verdacht auf Schädelhirntrauma in ein nahgelegenes Krankenhaus geflogen worden war, wo man im MRT einen Schlaganfall diagnostizierte und sie per Hubschrauber in die Notaufnahme des UKE brachte. Hier versuchten die Neurologen das Blutgerinnsel im Gehirn mithilfe eines speziellen Medikaments und Verfahrens, der Thrombolyse, aufzulösen. Haberland wird auf der Stroke Unit stabilisiert, doch das betroffene Gefäß im Gehirn war zu lange verschlossen und der Schaden bereits entstanden. „Richtig begreifen, was das konkret für mein Leben bedeutet, konnte ich im ersten Moment nicht. Ich bekam es zu spüren, als ich zum ersten Mal versuchte, zehn Meter über den Krankenhausflur zu gehen. Für jemanden, der vorher einen Marathon im Training laufen konnte, war das ein krasser Gegensatz“, erzählt Haberland. Der Schlaganfall hatte bei ihr die Hirnregion zerstört, die für die Motorik der linken Körperhälfte verantwortlich ist. „Mir wurde klar, dass mein bisheriges Leben auf der Überholspur von 100 auf Null gesetzt worden war und ich komplett umdenken muss.“

Jürgen Krieger ist dankbar,
kurz nach dem Schlaganfall kann er das UKE gesund verlassen

Auch im Fall von Jürgen Krieger schlägt das Schicksal aus heiterem Himmel zu. „Ich war gerade dabei, mir in einem Antiquariat ein Englisch-Deutsch-Wörterbuch auszusuchen, als ich plötzlich zusammensackte. Komisch fand ich, dass ich nicht von allein wieder hochkam und nur Kauderwelsch von mir gab“, erinnert sich der 74-Jährige. Ein Rettungswagen bringt ihn in die Notaufnahme des UKE, wo innerhalb weniger Minuten eine CT-Untersuchung die Erklärung für seinen Zustand liefert: Schlaganfall. Krieger hat Glück im Unglück. Das Gefäß ist erst seit Kurzem verschlossen und das betroffene Hirnareal noch intakt. Zügig kommt er in die Neuroradiologie, wo das Blutgerinnsel per Thrombektomie über einen Katheter entfernt wird, danach auf die Stroke Unit. „Es war wie ein Wunder. Direkt nach dem Eingriff konnte ich wieder sprechen und meine rechte Körperhälfte bewegen“, berichtet Krieger. Wie war das möglich? „Jede Minute, die ein Gefäßverschluss dauert, sterben tausende von Nervenzellen ab. Wird das Gerinnsel schnell genug entfernt, kann das Blut das betroffene Hirnareal wieder versorgen, ohne dass Schäden zurückbleiben“, erläutert Prof. Dr. Götz Thomalla, Leiter der Stroke Unit im UKE. Nach sechs Tagen darf Jürgen Krieger fast ohne körperliche Einschränkungen wieder nach Hause.

Jennifer Haberland wieder aktiv
Fast wie früher: Jennifer Haberland mit Freundin Phaedra Jahnke

Der lange Wege zurück

Jennifer Haberland hat sich ihr Leben nach dem Schlaganfall in kleinen Schritten zurückerobert. Sieben Wochen verbringt sie auf der Stroke Unit, durchläuft etliche neurologische Untersuchungen und startet mit der Reha. „Jeden Tag machte ich Übungen mit Ergo- und Physiotherapeuten und konnte Fortschritte erkennen“, erinnert sie sich. Es folgen neun Monate in unterschiedlichen Reha-Einrichtungen, in denen Haberland immer wieder an ihre Grenzen stößt. „Den linken Daumen zu bewegen war und ist für mich, als würde jemand verlangen, eine Tasse vom Tisch zu nehmen, ohne sie zu berühren“, erzählt sie. Sie trainiert weiter, übt zu gehen und schafft es mit viel Mut und Disziplin, den Rollstuhl zu verlassen. Doch wie meistert man seinen Alltag mit nur einer intakten Körperhälfte? „Die erste Zeit zu Hause war sehr schwierig. Einkaufen gehen, Geschirr abwaschen, Betten beziehen – jede Kleinigkeit glich auf einmal einer Mammutaufgabe“, so Haberland.

Komplett neurologisch durchgecheckt, wie hier beim Ultraschall
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Komplett neurologisch durchgecheckt, wie hier beim Ultraschall

Auf sich allein gestellt

Die junge Frau muss lernen, ihr Leben allein zu managen. Freunde und Familie stecken mittlerweile wieder so im Alltagstrott, dass es oft an der nötigen Unterstützung fehlt. „Das war mit die schwerste Zeit“, gesteht die junge Frau, die sich auch dieser Herausforderung stellt. Genau ein Jahr nach dem Schlaganfall kehrt Haberland in ihren alten Job zurück. Sie mischt sich unter Menschen, schließt neue Freundschaften und erfindet sich noch einmal neu. Auch Jürgen Kriegers Leben hat der Schlaganfall verändert. „Ich habe vieles überdacht und mir vorgenommen, bewusster zu leben und Pläne nicht mehr auf die lange Bank zu schieben“, sagt er. Und Jennifer Haberland? „Meine Prioritäten haben sich komplett verschoben. Der Sport liegt mir zwar weiterhin sehr am Herzen. Aber es geht nicht mehr darum, um jeden Preis ganz vorn dabei zu sein.“ Heute kann Jennifer Haberland mithilfe einer Fußheberschiene und eines Stocks selbständig laufen. Sogar ihre Hand öffnet sich ein wenig, wenn sie sich sehr darauf konzentriert. „Ich bin überzeugt, dass ich mir alles zurückerobern kann“, sagt die junge Frau und lächelt. Aufgeben ist für sie keine Option.

  • Wettlauf gegen die Zeit
  • Wettlauf gegen die Zeit
    Prof. Dr. Christian Gerloff, Ärztlicher Leiter
    der Klinik und Poliklinik für Neurologie

    Time is brain – jeder Schlaganfall ist ein Notfall. Je mehr Zeit verstreicht, desto mehr Hirngewebe geht für immer verloren. Im UKE gibt es mit 20 Betten die größte Spezialstation („Stroke Unit“) Norddeutschlands. 1400 Patienten werden hier jährlich versorgt.


    Plötzliche halbseitige Lähmungserscheinungen oder Taubheitsgefühle, Sprach- oder Sehstörungen, ein herabhängender Mundwinkel – dies sind die typischen Anzeichen für einen Schlaganfall. Rufen Sie bei Verdacht auf einen Schlaganfall den Notarzt: Tel. 112.

    „Sobald sich Warnzeichen bemerkbar machen, ist Eile geboten“, betont Prof. Dr. Götz Thomalla, Leiter der Stroke Unit. Im UKE gilt „U30“ als Ziel: 30 Minuten, nachdem der Patient in die Notaufnahme gekommen ist, sollte die Diagnose stehen und idealerweise die Therapie beginnen. Per Computertomographie (CT) oder Magnetresonanztomographie (MRT) wird ermittelt, ob eine Blutung im Gehirn (hämorrhagischer Schlaganfall) oder der Verschluss von Blutgefäßen (ischämischer Schlaganfall) den Hirninfarkt verursacht hat, um zügig die richtige Therapie einzuleiten. „In 85 Prozent der Fälle liegt ein Gefäßverschluss vor. Wird er rechtzeitig entdeckt, können wir diese Schlaganfälle dank neuer Therapieverfahren heute so behandeln, dass der Patient kaum oder keine bleibenden Schäden zurückbehält“, so Prof. Dr. Christian Gerloff, Direktor der Klinik für Neurologie.

    Prof. Dr. Götz Thomalla
    leitet die Spezialstation für Schlaganfallpatienten | Stroke Unit

    Liegt der Schlaganfall weniger als viereinhalb Stunden zurück, ist es möglich, das Blutgerinnsel (Thrombus) mittels Thrombolyse medikamentös aufzulösen. Bei Verschlüssen größerer hirnversorgender Gefäße kann eine Thrombektomie zum Einsatz kommen. Dabei wird der Thrombus mithilfe eines drei Millimeter dünnen Mikrokatheters, der über die Leiste bis zum Gefäßverschluss geführt wird, herausgezogen. Die Neurologen gehen davon aus, dass bis zu zehn Prozent aller Schlaganfallpatienten von dieser Methode profitieren können. Beste Therapieergebnisse werden durch die Kombination beider Verfahren erzielt.

Text: Nicole Sénégas-Wulf
Fotos: Axel Kirchhof