Neustart mit neuer Leber

Nelly Schall kommt 2005 mit der seltenen Stoffwechselstörung OTC-Mangel zur Welt. Ihrer Leber fehlte ein Enzym, das dafür sorgt, Eiweiße im Köper abzubauen. Jahrelang muss sie streng Diät halten, damit ihr Stoffwechsel nicht zu viel Ammoniak produziert und sie vergiftet. Im April 2019 erhält Nelly im UKE eine neue Leber – für die heute 16-Jährige wie ein Neustart ins Leben.

Nelly ist 13 Monate alt, als ihre Eltern die Diagnose OTC-Mangel in der Uniklinik Leipzig zum ersten Mal hören. „Es hieß, sie habe eine leichte Variante dieses Gendefekts, der über eine eiweißarme Diät gut in den Griff zu bekommen sei“, erzählt ihre Mutter Diana Schall, die sich innerhalb weniger Wochen zum Ernährungsprofi entwickeln muss. „Ich wog jedes einzelne Lebensmittel von der Karotte bis zum Apfelstückchen für unsere Tochter ab, um die täglich erlaubte Eiweißmenge nicht zu überschreiten und das giftige Ammoniak im Zaum zu halten“, sagt sie. Doch sobald ihre kleine Tochter kränkelt und aufhört zu essen, entgleist ihr Stoffwechsel. „Nelly wurde dann ganz apathisch und war nicht mehr ansprechbar. Wir fuhren ständig mit ihr ins Krankenhaus, wo der Ammoniakwert dann wieder eingefangen wurde.“ Mit zwei Jahren erhält Nelly eine Magensonde zur künstlichen Ernährung, um ihren Stoffwechsel zu Hause besser steuern zu können. Ihr Zustand stabilisiert sich zwar, doch auf jeden noch so kleinen Infekt folgt eine Entgleisung mit Behandlung im Krankenhaus.

Auch im Verhalten macht sich die Erkrankung durch das chronisch erhöhte Ammoniak im Gehirn deutlich bemerkbar. Nelly ist häufig hibbelig und überdreht, kann sich schlecht konzentrieren und wirkt fahrig. „Wo unsereTochter war, hat es immer gescheppert“, berichtet Diana Schall. Ab der zweiten Klasse muss sie ein Medikament gegen Hyperaktivität (ADHS) einnehmen und erhält eine Schulbegleitung. Freundschaften zu schließen, fällt ihr schwer. Wie hat Nelly selbst diese Zeit empfunden? „Anstrengend, weil ich nie allein mit Gleichaltrigen war und mal etwas unbeobachtet tun konnte“, sagt die heute 16-Jährige. In der Pubertät wird der Leidensdruck so groß, dass die Familie beschließt, sich im UKE beraten zu lassen. „Schon auf der Fahrt nach Hamburg wirkte Nelly schläfrig“, erinnert sich die Mutter. Als sie im UKE im Gespräch mit dem Stoffwechselmediziner plötzlich garnicht mehr reagiert, geht alles ganz schnell. Der durchgeführte Bluttest offenbart einen viel zu hohen Ammoniakwert; Medikamente schlagen nicht mehr an. Nelly kommt auf die Kinder-Intensivstation und erhält dort einen Katheter zur Dialyse. Erst nach drei Tagen sind ihre Werte wieder im Normbereich.

Für Nelly ist klar: So will sie nicht ihr ganzes Leben verbringen. Im Stillen denkt sie oft über die Möglichkeit einer neuen Leber nach. Eine Transplantation könnte den Gendefekt einfach ausschalten. Aber was würden ihre Eltern dazu sagen? Nelly ist froh, als sich Anfang 2019 im UKE die Kinderkrankenpflegerin Meike Franke auf ihre Bettkante setzt und hilft, ihre Gedanken zu ordnen. Franke betreut im UKE seit vielen Jahren nieren- und lebertransplantierte Kinder und deren Familien.„Nach dem Gespräch wusste ich, dass ich die Transplantation von ganzem Herzen wollte“, sagt Nelly. Es folgen Evaluationsuntersuchungen sämtlicher Organsysteme, um festzustellen, ob sie physisch und psychisch für eine Transplantation in Frage kommt. In der interdisziplinären Konferenz, in der Kinder-Hepatologie, Stoffwechselmedizin und Transplantationschirurgie die Ergebnisse diskutieren, fällt die für Nelly lebenswichtige Entscheidung: Sie kommt auf die Warteliste zur Lebertransplantation bei Eurotransplant.

Ultraschall-Untersuchung
Ultraschall-Untersuchungen zur Kontrolle gibt es regelmäßig

Nach nur zwei Monaten wurde für Nelly eine Spenderleber gefunden. Etwas mulmig ist ihr zu Mute, als sie die vielen Ärzt:innen um sich herum sieht. Aber ehe ihr Gedankenkarussell Fahrt aufnehmen kann, ist sie eingeschlafen – und die Mediziner:innen gehen im OP-Saal an ihre Arbeit. Chirurgie, Anästhesie, Kinderradiologie, Stoffwechselmedizin und pädiatrische Hepatologie – verschiedene Fachdisziplinen sind beteiligt und behalten unter anderem Nellys Stoffwechselwerte genau im Blick. Der Kinderradiologe prüft noch während der OP via Ultraschall, ob das neue Organ in Nellys Körper gut versorgt ist. Nach neun Stunden ist die OP überstanden, nach einer Woche die junge Patientin wieder auf den Beinen. Und heute? „Geht es mir super“, sagt Nelly und lächelt. Sie darf fast alles essen, benötigt nur wenige Medikamente (zweimal hatte sie Abstoßungsreaktionen, die medikamentös eingefangen wurden) und das ADHS-Syndrom ist verschwunden. Nelly ist dankbar für diese zweite Chance.

Text: Nicole Sénégas-Wulf, Fotos: Axel Kirchhof