Wenn Leichtsein so leicht wäre!
Jeder fünfte Deutsche ist adipös, krankhaft übergewichtig. Und jeder von ihnen hat ein persönliches Schicksal – und nicht selten einen jahrelangen Kampf gegen die Kilos geführt, den die wenigsten allein gewinnen. Patienten, die sich im Adipositas-Centrum des UKE behandeln ließen, erzählen aus ihrem Leben.
„Entschuldige, aber du bist fett!“ Benjamin Eisenhardt traut seinen Ohren nicht, als ihm ein wildfremder, gut gebauter Mann im Urlaub diesen Satz an den Kopf wirft. Er will gerade aufstehen und dem Fremden die Meinung sagen, da hält dieser ihm das Foto eines 200 Kilo schweren Mannes unter die Nase. „Das war einmal ich“, sagt er, „vor meiner Magenverkleinerung.“ Für Benjamin Eisenhardt ist dieser Moment ein Schlüsselerlebnis. „Ich war so beeindruckt zu sehen, dass es doch möglich ist, etwas zu verändern, und Montagnachlöcherte den Mann eine Stunde lang mit meinen Fragen“, sagt der 24-Jährige, der noch vor kurzem als Profi-Footballer in der ersten Bundesliga spielte. 165 Kilo brachte der Zweimetermann damals auf die Waage; und die galt es zu halten, mit rund 9000 Kalorien täglich. „Pizzen, Burger, Steaks – fast alles war erlaubt“, erinnert sich Eisenhardt. Bis ein gebrochener Rückenwirbel seiner Footballkarriere von heute auf morgen ein Ende setzt. Sein Leben, jahrelang vom Sport bestimmt, gerät aus den Fugen. Der junge Mann zieht sich zurück und beginnt, gegen den Frust anzuessen. Er wird dicker, macht Diäten und Sport, um danach noch mehr zuzunehmen. Am Ende wiegt er 185 Kilo. „Direkt nach dem Urlaub beschloss ich, mir Hilfe zu suchen, und ging in die Adipositas-Sprechstunde des UKE.“
Katharina Michaelis und Petra Möller (47 und 58 Jahre) kämpfen jahrelang alleine gegen die Kilos. „Die Ernährungsregeln weiß ich schon lange aus dem Effeff. Aber sie dauerhaft anzuwenden, ist mir immer schwer gefallen“, erzählt Petra Möller. Die Frauen lernen sich in der Adipositas-Selbsthilfegruppe kennen, die Marlies Wüpper vor zehn Jahren am UKE ins Leben rief (siehe Infokasten rechts). „Bei meinem ersten Besuch dort wog ich 148 Kilo und mein Selbstwertgefühl war am Nullpunkt“, erinnert sich Katharina Michaelis. „In der Selbsthilfegruppe erlebte ich zum ersten Mal, dass ich nicht allein bin mit meinen Problemen. Offen reden zu können, ohne verurteilt zu werden, gab mir den nötigen Antrieb, ernsthaft über medizinische Unterstützung nachzudenken.“
Hand in Hand gegen die Kilos
Auch Petra Möller will sich professionell helfen lassen und wendet sich an die offene Sprechstunde des Adipositas-Centrums, die jeden Montagnachlöcherte mittag im Hauptgebäude des UKE stattfindet. Hier informieren Ärzte und Pflegeexperten über Therapiemöglichkeiten und vermitteln an die entsprechenden Fachärzte des Centrums weiter. „Die meisten Patienten leiden neben dem Übergewicht an Begleiterkrankungen wie Diabetes, Bluthochdruck oder Stoffwechselstörungen und benötigen daher vielfältige Formen der Unterstützung“, erläutert Priv.-Doz. Dr. Jens Aberle, internistischer Leiter des Adipositas-Centrums. Die Betreuung findet daher durch ein fachübergreifendes Team aus Internisten, Stoffwechselexperten, Psychosomatikern und Chirurgen statt. Alle arbeiten nach einem im UKE entwickelten Stufenkonzept (siehe Seite 19), um für jeden Patienten die optimale Therapie zu finden.
„Ins Café zu gehen ohne angestarrt zu werden, ist ein tolles Gefühl.“ Petra Möller
Sechs Monate lang absolvieren Petra Möller und Katharina Michaelis einen mehrgleisigen Behandlungsfahrplan aus Ernährung, Bewegung und Psychosomatik. Parallel dazu läuft das Antragsverfahren zur operativen Magenverkleinerung. „Die Teilnahme an dem multimodalen Programm ist Voraussetzung für eine Adipositas-Operation, die nur dann zum Einsatz kommt, wenn zuvor alle anderen Therapiemöglichkeiten ausgeschöpft wurden“, erläutert Prof. Dr. Oliver Mann, chirurgischer Leiter des Adipositas-Centrums. Doch je höher der Body-Mass-Index (BMI), desto schlechter stehen die Chancen, die Kilos allein durch Diäten und Sport zu besiegen.
Das innere Umdenken fällt vielen schwer: „Wenn ich mich schlecht fühle, esse ich – das war schon als Kind so.“ Sandra Koglin
Auch die Patientinnen Möller und Michaelis erhalten am Ende eine Magen-Bypass-Operation – also eine Magenverkleinerung, durch die sich das Aufnahmevolumen des Magen-Darm-Trakts deutlich reduziert (siehe Seite 20). „Ich habe innerhalb von sechs Monaten 51 Kilo abgenommen und dafür jede Menge Lebensfreude gewonnen“, sagt Petra Möller, deren BMI von 44,3 auf 28,5 schrumpfte. Viele ihrer alten Ess- und Lebensgewohnheiten hat sie dafür über Bord geworfen; sie bewegt sich viel und isst bewusst mit Genuss. „Für mich ist die Operation wie eine Krücke, die mich auf dem Weg zu einem leichteren Leben unterstützt. Denn ganz ohne Eigeninitiative geht es nicht“, so die 58-Jährige.
Hürden gemeinsam überwinden
Gerade das innere Umdenken in Richtung eines neuen Lebensstils fällt vielen schwer. „Wenn ich mich schlecht fühle, esse ich – das war schon als Kind so“, berichtet Sandra Koglin, die sich vor einem Jahr im UKE operieren ließ, aber danach nicht so viel wie erhofft abnahm. Denn der Erfolg einer Therapie hängt maßgeblich auch von der psychischen Verfassung des Patienten ab. „Viele leiden unter einem negativen Selbstwertgefühl und müssen daher nach der Operation psychosomatisch weiterbetreut werden“, erläutert Dr. Verena Faude-Lang, Institut und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des UKE. Im Adipositas-Centrum werden psychosomatische Gruppensitzungen angeboten, in denen das persönliche Essverhalten reflektiert wird. Auch Sandra Koglin versucht, mithilfe einer Psychotherapie alte Verhaltensmuster aufzubrechen, um dieses eine Ziel zu erreichen: „Mit meiner kleinen Nichte Fahrrad zu fahren, das habe ich ihr vor der OP fest versprochen“, sagt die 34-Jährige. Im UKE Athleticum hat sie ihre Bewegungsfähigkeit testen lassen. Jetzt will Sandra Koglin mit einem auf sie zugeschnittenen Sportprogramm einen zweiten Anlauf gegen die Kilos starten.
Was Katharina Michaelis und Petra Möller an ihrem neuen Leben besonders schätzen? „Wieder – im guten Sinne – normal zu sein. Dazu gehört auch, im Café ein Stück Kuchen zu bestellen, ohne angestarrt zu werden“, sagt Möller. Ihre Freundin bestätigt: „Besonders schön sind die alltäglichen Dinge, wie T-Shirts in Normalgröße zu kaufen. Es ist so, als würde man sich seine Freiheit langsam zurückerobern.“ Das wünscht sich auch Benjamin Eisenhardt, der im Adipositas-Centrum das multimodale Programm absolviert hat und operiert wurde. „Ich möchte später mit meinen Kindern Football spielen können!“ Darauf will er hinarbeiten – um eines Tages vielleicht auch auf ein altes Foto zu deuten und voller Stolz sagen zu können: „Das war einmal ich!“
Wichtige Informationen auf einen Blick:
-
Gut beraten: Sprechstunden und Selbsthilfegruppen
Adipositas-Sprechstunden
Montags: 11 bis 15 Uhr
Montags: Basiskurs 16 bis 18 Uhr
Mittwochs: Nachsorge 13 bis 17 UhrUKE, Martinistraße 52
Gebäude O10, ErdgeschossTerminvereinbarung
Telefon:+49 (0) 40 7410 - 28599
E-Mail: adipositas@uke.deTelefonische Antragsberatung
Mittwochs: 8.30 bis 11.30 Uhr
Telefon:+49 (0) 40 7410 - 50292 Adipositas-Selbsthilfegruppe (SHG)
Jeden zweiten Donnerstag im Monat:
18 bis 19 Uhr für bereits Operierte
19.10 bis 21 Uhr für alle Interessierten
Gebäude O10, 2. OG, Raum 02.1.082.1Ehrenamtliche Leitung:
Marlies Wüpper
Telefon: 040 64231903
Mo. bis Fr. 15 bis 20 Uhr
E-Mail: wuepper@adipositas-shg-hh.de -
Gut betreut: Multimodales Stufenkonzept
Das Stufenmodell ist ein mehrgleisiges, langfristig angelegtes Therapiekonzept, das im Adipositas-Centrum des UKE entwickelt wurde und als Behandlungsgrundlage für jeden Patienten dient.
Stufe 1:
Ärzte und Pflegeexperten klären Patienten über aktuelle Behandlungsmöglichkeiten auf.Stufe 2:
Entwicklung eines individuellen TherapiekonzeptsStufe 3:
Interdisziplinäres Adipositas-Board mit Ausarbeitung einer individuellen TherapieempfehlungStufe 4:
Therapieplanung mit dem PatientenStufe 5:
Bei Indikation zur Operation Unterstützung beim Antragsverfahren zur Übernahme der OP-Kosten durch die KrankenkasseStufe 6: Stationäre Nachsorge. Nach der OP bleibt der Patient in der Regel sechs Tage in der Klinik. Er erhält Beratungen zu Kostaufbau und Ernährung sowie zur Bewegungstherapie.
Stufe 7:
Ambulante Nachsorge. Der langfristige Erfolgder Therapie hängt wesentlich von einer kontinuierlichen Nachsorge ab. Verlauf, Ernährungsstatus und Begleiterkrankungen werden engmaschig überwacht; im ersten Jahr alle drei – dann alle sechs Monate.
Viele weitere Informationen gibt es im im Internet unter www.uke.de/adipositas . -
Die häufigsten OP-Methoden
1. Der Magen-Bypass
Diese Operationsmethode macht im UKE rund 75 Prozent der Adipositas-Chirurgie aus. Zunächst wird der Magen mithilfe einer Naht verkleinert. So ist er bereits nach kleineren Nahrungsmengen voll und dehnt sich – es entsteht ein Sättigungsgefühl. Zudem legt der Chirurg eine Umleitung aus einem tiefer gelegenen Darmstück und schließt es an den Restmagen an. Durch hormonelle Veränderungen lassen auch Appetit und Hungergefühl nach.
2. Der Schlauchmagen
Bei diesem Eingriff wird ein Großteil des Magens entfernt, sodass nur noch ein Schlauch entlang der kleinen Magenkurve als Verbindung zwischen Speiseröhre und Darm erhalten bleibt. Der Magen verliert den größten Teil seiner Speicherkapazität. Alle operativen Eingriffe werden minimalinvasiv, also ohne großen Bauchschnitt, durchgeführt. Dieses Verfahren verringert das Risiko postoperativer Schmerzen und sorgt für ein besseres kosmetisches Ergebnis.
Text: Nicole Sénégas-Wulf
Fotos: Axel Kirchhof