„Püschel bleibt dem UKE erhalten“
Seine Expertise ist weltweit gefragt. Bei ungezählten Gewalt- und Todesfällen hat Prof. Dr. Klaus Püschel zu Aufklärung und Ausgleich beigetragen. Am 1. Oktober geht der langjährige Direktor des Instituts für Rechtsmedizin im UKE in den Ruhestand, „mit Freude und Wehmut“.
„Püschel wird den Gang in den Keller vermissen“, sagt der Rechtsmediziner, der gern mal in der dritten Person von sich spricht und das Untergeschoss seines Instituts meint. Alle Menschen aus Hamburg und dem direkten Umland, die eines nicht natürlichen Todes sterben, werden dort unten obduziert; seit Corona zudem alle Sterbefälle im Zusammenhang mit einer COVID-19-Infektion untersucht. Das hatte zunächst für Aufsehen gesorgt, lautete die Empfehlung des Robert-Koch-Instituts (RKI) doch, aus Hygienegründen auf Sektionen zu verzichten. Püschel hielt dagegen: Schutzmaßnahmen beim Umgang mit infektiösen Leichen seien alltägliche Routine. Fest steht, dass die Leichenschau weitreichende Erkenntnisse zu den Angriffszielen von SARS-CoV2 im Körper, zum Sterberisiko im Kontext von Alter und Vorerkrankungen und zur Sterbequote lieferte. Der 68-Jährige ist überzeugt: „Wenn wir die Toten genauer ansehen, lernen wir für das Leben.“
Erstes Berufsziel Sportmedizin
In der Nähe von Greifswald wurde er geboren, noch im Kinderwagen schieben ihn seine Eltern über die Grenze nach Westdeutschland. „In meinem Ausweis stand viele Jahre der Vermerk ‚politischer Flüchtling‘“, berichtet er amüsiert. Die Kindheit verbringt er in Bremen, wo die vierköpfige Familie lange Zeit in einem Zimmer einer Holzbaracke lebt. „Sowas kann sich heute keiner mehr vorstellen.“ Der jugendliche Püschel ist sportbegeistert, spielt im Leistungskader Tischtennis und schreibt für die Lokalzeitung über Wettkämpfe. Sein Berufsziel ist klar: Sportarzt. Gegen Ende des Studiums an der Medizinischen Hochschule Hannover orientiert er sich um, nachdem er bei einer fesselnden Vorlesung zur Rechtsmedizin gewissermaßen Blut geleckt hat. „Püschel ist aber auch Sportmediziner“, und er besitzt den A-Lizenz-Trainerschein im Tischtennis. Heute spielt er in der Freizeit vorzugsweise Tennis, läuft, reitet oder kickt mit den Enkeln.
Nach dem Studium startete Püschel 1976 im UKE, 1989 geht er für zwei Jahre ans Uniklinikum Essen, seit 1991 leitet er das Institut für Rechtsmedizin. Den Wechsel der Fachrichtung hat er nie bereut: „Rechtsmedizin ist das mit Abstand spannendste Fach der Medizin, und ich habe den interessantesten Beruf der Medizin“, findet er und fügt ironisch hinzu: „Ich führe eine Praxis für fast vier Millionen Menschen aus Hamburg und Umgebung und mache alle spannenden Hausbesuche selbst.“ Gemeint seien die Tatorte, „und die Krankheit, die wir behandeln, heißt Gewalt“. Ob Kindesmisshandlung, Vergewaltigung oder Vernachlässigung alter Menschen – „mit Tatrekonstruktionen und Gutachten sorgen wir dafür, dass die Opfer Gerechtigkeit erfahren.“
Dekubitus und Plötzlicher Kindstod aufgeklärt
Prof. Püschel und seinem Team ist es beispielsweise zu verdanken, dass die Zahl der Druckliegegeschwüre (Dekubitus) bei alten Menschen in Pflegeheimen drastisch zurückging: Seit Ende der 1990er-Jahre untersucht das Institut für Rechtsmedizin alle Hamburger Toten, die eingeäschert werden sollen. Anfangs sichtete der Institutsdirektor im Krematorium Öjendorf selbst die Toten, bei vielen entdeckte er Durchliegestellen – und war empört. „Vernachlässigung ist auch eine Form der Gewalt“, betont er. Seit die Hamburger Rechtsmediziner bei der Krematoriumsleichenschau den Finger in die Wunde legen, ist die Rate der schlimmen Dekubitus-Fälle um 80 bis 90 Prozent zurückgegangen. „Das ist kein Erfolg der Wundtherapeuten, sondern das Ergebnis von genauem Hinschauen, Anmahnen und Austausch. Das Thema Dekubitus ist heute ein Maßstab der Pflegequalität in Hamburg.“
Bestes Beispiel für die segensreiche Wirkung der Rechtsmedizin ist für Püschel der Plötzliche Kindstod, bis 1990 die häufigste Todesursache bei Kindern im ersten Lebensjahr. Nachdem die UKE-Rechtsmediziner Ende der 80er-Jahre in einer Studie festgestellt hatten, dass diese Babys überwiegend in Bauchlage und in verrauchten Wohnungen gestorben waren, wurde gemeinsam mit den Hamburger Kinderärzten eine breit angelegte Aufklärungskampagne über die Risikofaktoren gestartet – mit Langzeitwirkung: „Damals gab es 30 Fälle pro Jahr in Hamburg, heute sind es drei bis vier.“
„Wir sorgen mit unserer Arbeit für Rechtssicherheit“
Rechtsmedizin ist international, Püschel und sein Team sind immer wieder auch an Auslandseinsätzen beteiligt; etwa, wenn sie bei Naturkatastrophen oder Flugzeugabstürzen deutsche Todesopfer identifizieren. Oder nach Kriegsereignissen, wenn Tote exhumiert und identifiziert und Gräuel aufgedeckt werden. „Mit unserer Arbeit sorgen wir für Rechtssicherheit“, betont er. In Ruanda ist das UKE seit 2005 im Auftrag der dortigen Behörden an der Aufarbeitung des Völkermords von 1994 beteiligt und identifiziert frühere Täter und Opfer. Damals hatten Hutu binnen 100 Tagen eine Million Tutsi ermordet – „und die ganze Welt hat zugeschaut.“ Darüber regt Püschel sich heute noch auf. Die Grausamkeiten, die Menschen sich gegenseitig zufügen, könne man sich gar nicht ausmalen, sagt er. In der Stadt Murambi, dem Schauplatz eines der schlimmsten Massaker, haben die UKE-Rechtsmediziner 20 Opfer präpariert, die nun in Glaskästen ausgestellt sind, als Mahnmal des Schreckens. „Wir zeigen sie ganz bewusst mit ihren Verletzungen und Verstümmelungen.“
Prof. Püschel hat am UKE intensiv Forschung betrieben, zu seinen Schwerpunkten gehören forensische Bildgebung, Drogentod, Alkohologie, Altersforschung. Über 1000 wissenschaftliche Artikel hat er publiziert. 2013 wurde er aufgrund seiner herausragenden wissenschaftlichen Leistungen in die Academia Leopoldina gewählt. Er ist Mitherausgeber von Fachjournalen und schreibt zudem „mit großem Spaß“ Bestseller über faszinierende Kriminalfälle, etwa die Frauenmorde des Fritz Honka, den Tod des Politikers Uwe Barschel oder die Anklage gegen Wettermoderator Jörg Kachelmann.
„Ich schätze das Leben.“
Was er gelernt hat von den vielen Toten, mit denen er im Laufe seines prall gefüllten Berufslebens zu tun hatte? „Ich schätze das Leben, da ich bei meiner Arbeit viele negative Abläufe sehe und erfahre, wie schnell sich alles von einem Moment auf den anderen ändern kann.“ Auf sein Mobiltelefon hat er diese automatische Ansage gesprochen: „Positiv denken, bitte!“ Nun freut sich Püschel auf den neuen Lebensabschnitt und insbesondere die Chance, mehr Zeit mit seinen sieben Enkelkindern zu verbringen. Er will auch weiter über zurückliegende spannende Fälle schreiben und zusammen mit pensionierten Kriminalbeamten und Gerichtsmedizinern ungeklärte Verbrechen, sogenannte Cold Cases, bearbeiten. „Wir haben die Zeit, noch mal mehrere Tausend Seiten Akten zu lesen und in Ruhe zu diskutieren. Da kommen einem doch noch mal neue Ideen.“
Eins weiß er sicher: „Mein Team wird mir fehlen.“ Am UKE wird Püschel aber als Seniorprofessor weiterhin aktiv sein, bei Bedarf die Lehre am UKE unterstützen. Er plant außerdem, zu verschiedenen Schwerpunkten zu forschen, „die eindeutig vom Tagesgeschehen der Rechtsmedizin abgegrenzt sind“, etwa im Bereich der Archäologie und Anthropologie. Da soll es um alte Leichen gehen, von den Toten aus dem Krieg bis zu Moorleichen und ägyptischen Mumien. Als Sportmediziner interessiert er sich für den Bewegungsapparat und die Biomechanik und wird mit den betreffenden Spezialabteilungen zusammenarbeiten. Kurzum: „Püschel bleibt dem UKE erhalten.“
Text: Ingrid Kupczik, Fotos: Axel Kirchhof