Reset des Immunsystems
Was tun, wenn fehlgesteuerte Abwehrzellen permanent das Zentrale Nervensystem attackieren und keine Medikamente die Multiple Sklerose (MS) aufhalten kann? Dann ist es Zeit für einen Neustart des Immunsystems.
Text: Silvia Dahlkamp, Fotos: Axel Kirchhof
DIE VISION: MULTIPLE SKLEROSE ENDLICH ERFOLGREICH BEHANDELN
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Zittrige Finger, taube Füße, Sprech- und Schluckstörungen, Gleichgewichtsprobleme – zunächst hat Multiple Sklerose keine typischen Symptome“, sagt Prof. Dr. Christoph Heesen, Leiter der MS-Ambulanz und -Tagesklinik im UKE. Wie alle Autoimmunerkrankungen, bei denen das Immunsystem körpereigene Strukturen angreift, gilt auch die „Krankheit der tausend Gesichter“ als nur schwer heilbar. In den vergangenen Jahren sind zwar Hightech-Medikamente auf den Markt gekommen, die die Angriffe auf das Nervensystem abbremsen und stoppen sollen. Doch nicht immer schlagen Immuntherapien und Therapeutika an.
Stammzellen bilden neue Blutkörperchen und -plättchen
„Jede:r zwanzigste MS-Kranke hat einen fortschreitenden, sogenannten progredienten, Verlauf, der hochaggressiv ist“, so Neurologe Heesen. Für diese Patient:innen kommt ein anderer Behandlungsansatz, der ursprünglich für die Krebsmedizin entwickelt wurde, in Frage. Dabei wird in einer Art „Reboot“ das fehlgesteuerte Immunsystem zunächst komplett heruntergefahren und anschließend neu gestartet. Dabei spielen körpereigene, autologe Stammzellen eine besondere Rolle. Die sogenannten Mutterzellen sind in der Lage, neue Blutkörperchen und Blutplättchen zu bilden. Deshalb werden sie zu Beginn der Behandlung aus dem Knochenmark ins Blut mobilisiert, dort gesammelt und dann zunächst eingefroren.
Anschließend wird mit einer hochdosierten Chemotherapie das falsch programmierte Immunsystem ausgeschaltet, die Stammzellen werden aufgetaut und zurückgegeben. Es entsteht ein neues blutbildendes System mit einer neuen körpereigenen Abwehr, die bestenfalls auch keine Nerven mehr attackiert. Prof. Heesen: „Die Stammzelltransplantation kann besonders jungen Menschen mit heftigen Verläufen große Chancen eröffnen, die Krankheit für Jahre in den Griff zu bekommen.“
Gute Zusammenarbeit zwischen Neurologie und Hämatologie
Im UKE wird das Verfahren seit einigen Jahren bei MS-Patient:innen angewandt. „Wir haben die Behandlung stetig weiterentwickelt, schwerwiegende Komplikationen hat es in keinem Fall gegeben“, sagt Prof. Dr. Nicolaus Kröger, Leiter der Interdisziplinären Klinik für Stammzelltransplantation im UKE. Das liege auch an der guten Zusammenarbeit zwischen Neurologie und Hämatologie, so Kröger. Über ein Medical Board planen die Mediziner:innen gemeinsam jeden Schritt: Aufnahmegespräche, Krankengeschichte, Medikamente, Blutspiegelwerte – jede:r ist über alles informiert. „Gute Kommunikation ist extrem wichtig für den Behandlungserfolg“, so Kröger. Und sie schafft Vertrauen bei den Patient:innen, die noch Jahre später zur Nachsorge kommen. Die Bilanz bisher: „Bei 15 von 20 Transplantierten kam die Krankheit zum Stillstand, vier Patient:innen sind beschwerdefrei. Nur in einem Fall ließ sich die Krankheit gar nicht aufhalten“, sagt Heesen.
Multiple Sklerose
Allein in Deutschland leiden mehr als 250.000 Menschen an der chronischen Erkrankung, bei der fehlgesteuerte Immunzellen die Isolierschicht (Myelin) der Nervenfasern (Axone) attackieren und diese am Ende ungeschützt freiliegen. Gesunde Fasern leiten bis zu 1000 Signale in der Sekunde an das Zentrale Nervensystem (ZNS). Von dort gehen in rasender Geschwindigkeit Befehle an Muskeln und Organe. Entzünden sich jedoch immer wieder sensible neuronale Schaltstellen im Körper, werden Reize nur noch verzögert und schließlich gar nicht mehr übertragen.
Weitere Informationen finden Sie unter www.uke.de/ms
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