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Virtuell Mikroskopieren lernen

Auch in der ärztlichen Weiterbildung werden innovative digitale Konzepte eingesetzt: Beim eLearning Curriculum Hämatologie greifen Ärzt:innen in Weiterbildung, Studierende, Wissenschaftler:innen und Medizinisch Technische Assistenti:innen (MTAs) auf eine Sammlung von Präparaten aus der Zytologischen Diagnostik zurück, die digitalisiert und auf einer eigens dafür entwickelten teaching-Plattform zur Verfügung gestellt worden ist. Ein einzigartiges Projekt mit bereits über 1000 Nutzer:innen. Und es werden immer mehr.

Text: Sandra Wilsdorf, Fotos: Axel Kirchhof

DIE VISION: MIKROSKOPIE VON GROSSER BEDEUTUNG FÜR DIFFERENZIERTE DIAGNOSTIK

Wissen: Moderne Analysemethoden zusammen mit Mikroskopie aussagekräftiger

Forschen: Erleichtert digitale Lernplattform den Zugang zur Mikroskopie?

Heilen: Virtuelle Präparate nutzen über 1000 Ärzt:innen für Diagnostik

Für Funktionsoberärztin Dr. Anne Marie Asemissen, II. Medizinische Klinik und Poliklinik, ist das Mikroskop tägliches Arbeitsgerät – sie betrachtet und untersucht dadurch Blut, Knochenmark und Nervenwasser, stellt fest, ob es krankhaft verändert ist oder nicht, unter welcher Krankheit der Patient oder die Patientin leiden könnte und gibt Empfehlungen für weitere Diagnostik und Therapie. Ihr Wissen gibt sie zudem in Mikroskopierkursen auch an Studierende, ärztliche Kolleg:innen und MTAs weiter. Seit einiger Zeit auch virtuell und in einem ihren Angaben zufolge einzigartigen Projekt: dem eLearning Curriculum Hämatologie, dem „eLCH“ (https://ehaematology.com/s67/ ). Denn die Hämatologin, die im Universitären Cancer Center Hamburg (UCCH) arbeitet, hat eine Datenbank mit fast 400 virtuellen Präparaten aus der zytologischen Diagnostik, unter anderem aus Knochenmark, Liquor und Blut aufgebaut und sie auf einer eigens dafür erstellten interaktiven teaching-Plattform zugänglich gemacht.

Die Ärztin hat das Projekt gemeinsam mit zwei MTAs und in Kooperation mit einem medizinischen Software-Unternehmen realisiert. Inzwischen nutzen über 1000 Ärzt:innen, Medizinstudierende und MTAs das Angebot – aus Deutschland, aber auch aus Österreich und der Schweiz. Und wöchentlich werden es mehr. Das Projekt wurde von der Deutschen Krebsgesellschaft und von der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie (DGHO) unterstützt und wird inzwischen von der DGHO als Fachgesellschaft getragen. So wurde eLCH auch in „Onkopedia“, dem Leitlinienportal der DGHO, integriert.

„Mikroskopie eine günstige, schnelle und ergebnisoffene Methode“

Wie es dazu kam? Dr. Anne Marie Asemissen beobachtet seit Jahren, dass sich das Mikroskopieren zu einer Art aussterbender Kunst entwickelt: „Jede:r Hämatolog:in sollte das können, es kann aber nicht jede:r. Und kaum jemand kann es so gut, um andere Ärzt:innen in Weiterbildung darin auszubilden“. Das habe auch damit zu tun, dass inzwischen in der hämatologischen Diagnostik neben der Mikroskopie molekulargenetische und durchflusszytometrische Methoden flächendeckend verfügbar seien und man eine Weile annahm, dass diese die Mikroskopie überflüssig machen würden. Für Asemissen ein Irrglaube: „Das ist so, als würde man den Kardiolog:innen das EKG wegnehmen und ihnen sagen: Ihr habt ja jetzt den Herzkatheter“. Die Mikroskopie bleibe eine günstige, schnelle und vor allem ergebnisoffene Methode, die zuverlässig Anhaltspunkte dafür gebe, wie es mit dem Patienten oder der Patientin diagnostisch und therapeutisch weiterzugehen habe. Sie vermittle den Betrachtern außerdem ein Fingerspitzengefühl für die Erkrankung: „Man bekommt anhand des Blutbildes einen Eindruck von der Dynamik der Erkrankung und der Behandlungsbedürftigkeit der Patient:innen“.

Trotzdem: Mikroskopieren entwickelte sich in der Aus- und Weiterbildung zusehends zu einem Nadelöhr. „Mit möglichen Risiken für die Sicherheit der Patient:innen, höheren Kosten und längeren Wartezeiten bis zur Diagnosestellung“, so Dr. Asemissen. „Als die Pathologie vor etwa fünf Jahren ihre Weiterbildung weitgehend digitalisierte, dachte ich mir: Das will ich für die mikroskopischen Knochenmark- und Blutbildbefunde auch. Das würde die Aus- und Weiterbildung ideal unterstützen!“ Aber Patholog:innen arbeiteten mit 20- bis 40-fachen Vergrößerungen – das sei ohne qualitative Einbußen und ohne Zeitverlust zu digitalisieren. Hämatolog:innen aber seien bei Betrachtungen des Knochenmarks auf bis zu 100-fache Vergrößerungen angewiesen – technisch bis vor wenigen Jahren noch nicht machbar und wenn, dann nur sehr teuer.

2018 schließlich kam eine würfelförmige Kamera auf den Markt, die einfach auf das Befundungsmikroskop aufgesetzt wurde – ohne zusätzliche optische oder digitale Einheit. Allerdings gab es dafür keine automatisierte Scaneinheit, alle Präparate müssen manuell gescannt werden – was sehr viel Zeit kostet und nur mit viel Geduld und Erfahrung gute Ergebnisse bringt. „Zwei MTAs aus unserem Team haben gesagt: Wir fangen manuell an, Präparate einzuscannen und wenn dann eine automatisierte Lösung kommt, können wir die übernehmen“, erzählt Asemissen. Diese Hoffnung sei allerdings bis heute nicht in Erfüllung gegangen, vor allem weil das qualitativ hochwertige Scannen von Knochenmark aufgrund der irregulären Struktur eine kontinuierliche Fokusanpassung erfordere. Und so haben die MTAs inzwischen fast 400 Präparate von Blut, Knochenmark und Liquor eingescannt, und die Ärztin hat sie befundet, beschriftet und Annotationen hinzugefügt.

Datenbank bietet breites Befundspektrum

Wer die Datenbank besucht, findet dort Normalbefunde, in die reingezoomt werden kann. Dann können rote Blutkörperchen, Blutplättchen oder weiße Blutkörperchen identifiziert werden, aber auch Befunde, die entzündlich veränderte Zellen zeigen, Anämien, Neoplasien aus dem Immun- und blutbildenden System wie multiple Myelome und akute Leukämien. Auf charakteristische Befunde wird in Annotationen Bezug genommen, es werden auch Hinweise zu weiterer Diagnostik und Therapie gegeben. „Das ermöglicht ein integriertes Lernen“, so Dr. Asemissen.

Ein weiterer Vorteil der digitalen Plattform eLCH ist die Verfügbarkeit auf jedem digitalen Endgerät überall dort, wo es einen Internet-Zugang gibt. Man könne sich nun etwa beim Warten auf den Zug ein paar Präparate anschauen – „eine Routine entwickeln wie Zähneputzen“, lacht Dr. Asemissen. Mit der Festlegung der Inhalte der Plattform sei darüber hinaus erstmals ein Curriculum für eine hochwertige Postgraduierten-Ausbildung in der hämatologischen Zytologie definiert worden.

Corona hat dieser Entwicklung eine ganz neue Bedeutung gegeben. „Von heute auf morgen waren Mikroskopierkurse, bei denen bis zu 75 Menschen eng an eng sitzen und gemeinsam lernen, undenkbar“, erzählt die Oberärztin. Mitte 2020 waren die ersten Präparate fertig und konnten für den internen Gebrauch der Abteilungsweiterbildung freigeschaltet werden. Außerdem konnten während der Pandemie virtuelle Mikroskopierkurse als Webinare angeboten werden, bei denen teils über 100 Teilnehmende dabei waren: „Darin drückt sich auch aus, wie dringlich der Bedarf an morphologischer Weiterbildung ist.“

Lernplattform ein digitales Nachschlagewerk

Was ursprünglich als Lernplattform gedacht war, entwickelt sich immer mehr auch für den kollegialen Austausch und hilft beim Nachschlagen: Die digitalisierte Morphologie soll auch die Diagnostik unterstützen. Da ist beispielsweise die Ärztin, die eine junge Frau auf die Station bekommt, die der Hausarzt mit Verdacht auf Leukämie geschickt hat. Ein Anruf bei Anne Marie Asemissen folgt: „Kann es nicht auch ein Virus sein?“ Die sucht aus der Datenbank ein Präparat heraus, das eine Viruserkrankung zeigt und schickt es der Kollegin per QR-Code. „Genauso sieht es aus“, sagt die – und kann die junge Patientin erleichtert nach Hause schicken.

Inzwischen würden auch Kolleg:innen Präparate schicken – diese werden mit Nennung der Einsendenden in die Plattform integriert. Eine MTA einer anderen Klinik habe nach ihrer Pensionierung ihre ganze Sammlung an Liquor-Präparaten dem Team um Dr. Asemissen zur Verfügung gestellt. Das träumt als nächsten Schritt von einer englischen Version der Plattform, damit das Fortbildungsangebot auch über die internationalen Fachgesellschaften zugänglich gemacht werden kann. „Und vielleicht lassen sich auch andere Facharztgruppen davon inspirieren“, so die Hoffnung der Hämatologin. Künstliche Intelligenz und Maschinelles Lernen könnten in die komplexe multidimensionale Diagnostik des Knochenmarks eingebunden werden, es bestehen bereits Kooperationen mit Arbeitsgruppen aus dem IT-Bereich.

Mikroskopieren wird auch in Zukunft nicht überflüssig

Wird das Mikroskopieren nun also doch überflüssig? „Auf keinen Fall. Auch die Weiterentwicklung hochmoderner Methoden enthebt nicht von der Notwendigkeit der mikroskopischen Diagnostik“. So könne beispielsweise mit der genetischen Methode erkannt werden, dass an einer Stelle etwas nicht stimme. Häufig kämen dann aber mehrere Krankheiten als mögliche Ursachen für die genetische Veränderung in Frage – alle mit unterschiedlichen Prognosen und Behandlungskonzepten. Um welche Diagnose es sich im Einzelnen handelt, zeige der Blick durchs Mikroskop. „Es geht mir darum, diese Kompetenz zu erhalten und den Zugang zu der Methode durch die Integration in eine moderne Aus- und Weiterbildung zu erhalten und in der Breite zu ermöglichen“.

Den Besuch im Labor ersetze die digitale Plattform übrigens auch nicht: „Das ist wie beim Lernen einer Sprache: Grammatik und Vokabeln werden einem beigebracht, aber sprechen und verstehen muss trotzdem in der praktischen Anwendung erlernt werden“. Übersetzt heißt das: „Wenn ich mir das virtuell angesehen habe, muss ich danach ins Labor gehen und mir Präparate durchs Mikroskop anschauen, etwa von den Patient:innen, die ich selber punktiert habe“. Mikroskopieren lernen sei so komplex, dass sich da viele nicht rantrauten: „Wenn wir durch die eLCH-Plattform die Hemmschwelle ein wenig senken, ist schon sehr viel gewonnen – vor allem für unsere Patient:innen.“



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